May 24, 1999

bericht: "Nahr al-Bareds isolierte Ökonomie"

2009-05-24
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Mohammad und Mahmoud sitzen auf einer brachliegenden Wiese am Rande des palästinensischen Flüchtlingslagers Nahr al-Bared in Nordlibanon. Während Mahmoud auf seinem Mobiltelefon Lieder anhört und mitsingt, spielt Mohammad auf seinem Telefon. Irgendwann löst sich Mohammads Blick vom Bildschirm und er sagt mit ruhiger Stimme: „Wir verbringen unseren Alltag mit Nichtstun. Nach dem Aufstehen sitze ich zwei Stunden lang im Café. Dann gehe ich nach Hause essen, treffe mich mit meinen Freunden und wir kehren ins Café zurück. Dort sitzen wir bis zum Abend, bevor wir heimgehen, Tee trinken und schlafen. Und so geht das jeden Tag.“

Die zwei jungen Erwachsenen sind nicht die einzigen arbeitslosen Flüchtlinge in Nahr al-Bared. Eine von der UNRWA im September 2008 durchgeführte und im November veröffentlichte Untersuchung schätzt die Arbeitslosigkeit unter den damals rund 10.000 nach Nahr al-Bared zurückgekehrten Personen auf 40 Prozent. Diese Zahl basiert allerdings auf Aussagen der Befragten. Sie verschleiert eine beträchtliche Dunkelziffer an Temporär- und Teilzeitbeschäftigten. Der Anteil der TagelöhnerInnen an der Zahl der Beschäftigten im Camp ist sehr hoch – viele der Betroffenen arbeiten bloss wenige Tage pro Woche und oft wochenlang gar nicht.

Auch Mohammads Vater Zeyad ist arbeitslos. Einen beträchtlichen Teil seines Lebens verbrachte er mit dem Bau von Pipelines zwischen dem Kaukasus und der Golfregion. Vergangenen Sommer kam er bei einer libanesischen Firma in al-Koura unter, aber nicht für lange: „Als wir zu wenig Arbeit hatten, war ich der erste, der gehen musste. Weil ich Palästinenser bin und leicht entlassen werden kann.“ Seither hält Zeyad sich und seine Familie mit Fischen und einem einfach zu übersehenden Café am Rande der temporären Metalbaracken halbwegs über Wasser.

Laut eine Studie des norwegischen FAFO-Instituts aus dem Jahr 2007 arbeiteten vor dem Krieg 63% der werktätigen Bevölkerung innerhalb des Camps. Nahr al-Bared war einst der lebendigste Handelsplatz zwischen Trablous und der syrischen Grenze. In der UNRWA-Umfrage beklagten drei Viertel der ehemaligen Geschäftsinhaber die totale Zerstörung ihres Unternehmens. Ein Bericht beziffert die Zahl der zerstörten und beschädigten kleinen und mittelgrossen Unternehmen in Nahr al-Bared auf 1512. Während und nach des Krieges, als das Camp unter alleiniger Kontrolle der libanesischen Armee stand, wurden aus den restlichen Unternehmen Maschinen, Werkzeug und Lagerbestände geplündert und die Geschäfte angezündet oder andersweitig zerstört. Nahr al-Bareds Wirtschaft wurde physisch eliminiert.

Zeyad hat Zeit zum Fischen. Jeden Morgen geht er zwischen 5 und 7 Uhr ans Meer und versucht ein paar Stunden lang sein Glück. „Es hängt vom Wind ab“, sagt er. „Vorgestern habe ich soviel gefangen, dass ich Fisch für 14.000 LBP (knapp 10 US$) verkaufen konnte. Gestern war gar nichts.“ Wenn der Wind gut ist, kehrt er am späten Nachmittag ans Meer zurück. Ein Lastwagen entsorgt dort gerade eine weitere Ladung Schutt aus dem alten Camp. Entlang Nahr al-Bareds Küste wurde in den letzten Monaten ein rund 10 Meter breiter Streifen aufgeschüttet. Zeyad steht auf seinem ehemaligen Camp, als er seine Angel auswirft. Unter seinen Füssen liegen zerbrochene Kinderspielzeuge, ein Schuh, Küchenbesteck und Überreste von Backsteinen.

Zeyads Familie, die in zwei der engen, tagsüber unerträglich heissen Metallbaracken wohnt, hat sich mittlerweile daran gewöhnen müssen, beinahe täglich Fisch zu essen. Für Fleisch reicht das Geld selten aus. Mitte Mai beschloss Zeyad, das Wellblech-Café wieder zu öffnen. Er zeigt auf eine Kiste mit Süssgetränken: „Schau, diese Kiste enthält 24 Flaschen. Wenn ich alles verkaufe, mache ich 1.000 LBP Gewinn, also der Preis von vier Flaschen. Am Ende des Tages erwirtschafte ich mit dem Café ein paar Dollar, wenn ich Glück habe.“

Ähnlich, aber ein wenig besser geht es Mohammad, einem jungen Metzger. Er hat 5.000 Dollar in eine Metzgerei investiert, wo er auch Sandwiches und Snacks verkauft. Ein Kunde packt gerade sein Sandwich ein und reicht ihm 1.000 LBP. Mohammad dreht sich um und meint: „In Trablous verkauft man dasselbe Sandwich für den dreifachen Preis. An diesen 1.000 LBP hängt beinahe kein Gewinn. Zudem kriegt er diese 1.000 in ein paar Tagen gleich wieder zurück, wenn ich bei ihm Gemüse kaufen gehe.“ Ein paar Strassen weiter erhält Salim, ein junger Schuhmacher, ebenfalls gerade 1.000 LBP von einem Kunden. Als jener weggelaufen ist, spottet Salim: „Die wirtschaftliche Situation in Nahr al-Bared ist so, dass du auf diesen Geldschein deinen Namen schreiben könntest, er eine Runde durch das Camp macht und am Ende der Woche bringt ihn dir ein Kunde wieder.“

Der Hauptgrund für diesen beinahe geschlossenen Kreislauf ist die Abschottung des Flüchtlingslagers durch die libanesische Armee. Im UNRWA-Survey bestätigten die befragten GeschäftsinhaberInnen aus dem Camp, dass vor dem Krieg rund die Hälfte ihrer Kunden LibanesInnen gewesen seien. Der Vorsitzende des Händlerkomitees Nahr al-Bareds, Abu Ali, schimpft: „Das Camp ist eine geschlossene Militärzone. Unsere libanesischen Nachbarn dürfen es nicht betreten. Wie kann sich unter diesen Bedingungen die Wirtschaft Nahr al-Bareds entwickeln?“ Das Kaffeehaus El-Saadi und weitere Unternehmen haben nun ausserhalb der Checkpoints kleine Filialen eröffnet. Ein anonymer UNRWA-Mitarbeiter weist auf das Dilemma hin: „Den Unternehmern Starthilfe für den Aufbau von Läden ausserhalb des Camps zu geben ist äusserst problematisch. Andererseits haben sie gegenwärtig im Camp drin kaum Überlebenschancen.“

Einer dieser hoffnungslosen Fälle gehört Ahmad, einem jungen Mann aus den Eisenbaracken. Nachdem er sich monatelang mit Tagesjobs herumgeschlagen und es nie auf einen grünen Zweig geschafft hat, eröffnete er Mitte Mai ein kleines Internetcafé. Nach wenigen Tagen allerdings war dieses wieder geschlossen: Zu wenig Kunden, kaum Ertrag. Er verkaufte die Computer wieder und schaffte einen Billardtisch und eine Saftpresse an. Trotzdem verbringt er den Grossteil des Tages mit verschränkten Armen auf einem Plastikstuhl vor seinem Lokal.

Ähnlich erging es Zeyads Sohn Mahmoud. Letzten Herbst betrieb er ein paar Monate lang ein Internetcafé in der Wellblechkonstruktion neben den Baracken. Mittlerweile hat er die Computer wieder verkauft. „Mehr als ein paar Dollar pro Tag habe ich damit nicht verdient, obwohl die Arbeitsplätze ständig besetzt waren. Langfristig lohnte sich das nicht“, sagt er. Er arbeitet nun wieder in Beirut. Jeden Morgen verlässt er das Camp zwischen 5 und 6 Uhr und kommt abends zwischen 19 und 21 Uhr wieder heim. Seine beiden Söhne sieht er meist nur schlafend, knapp die Hälfte seines Tageslohnes gibt er für den langen Arbeitsweg und die Verpflegung aus.

In Nahr al-Bared scheint es viel zu viele Cafés, Manaqish-Bäcker, Sandwich-Verkäufer, Kleider-, Krämer- und Gemüseläden zu geben. Sie streiten sich um die wenigen KundenInnen und erarbeiten einen Ertrag, für den sich der Aufwand kaum lohnt. Dementsprechend kurzlebig sind diese Unternehmen denn auch oft. Zu schwach ist die Kaufkraft der Kundschaft und aufgrund der Isolation des Camps sind auch Investitionsanreize klein. Abu Ali deutet aber auch auf mangelnde Investitionsmittel hin: „Nahr al-Bareds wirtschaftlicher Erfolg vor dem Krieg basierte unter anderem auf Schuldenwirtschaft. Libanesische KundInnen konnten ihre Güter in Raten bezahlen. Bis heute haben viele Leute aus der Region Akkar ihre Schulden bei den ehemaligen LadenbesitzerInnen nicht beglichen. Nicht nur ging im Krieg viel Kapital verloren, sondern auch viele Schuldbücher.“

Die gegenwärtige ökonomische Misere in Nahr al-Bared verleitet den ehemaligen Besitzer mehrerer Kleiderläden, die fundamentale Frage nach dem Kriegsgrund zu stellen: „War etwa die Zerstörung der Wirtschaft Nahr al-Bareds das Ziel?“ Er weist auf die letztjährige Auseinandersetzung zwischen den Alawiten vom Jabal Mohsen und den Sunniten aus dem Bab at-Tabbaneh Quartier in Trablous hin: „Die Armee hat dort Soldaten und Panzer positioniert, aber das Gebiet ist nicht abgeschottet. Also können sie doch auch Nahr al-Bared öffnen! Wir verlangen von den libanesischen Verantwortlichen die sofortige Aufhebung der Abschottung des Camps!“

Seit Ende Mai verkauft Zeyad in seinem Café nun auch Orangen- und Karottensaft. Das Geschäft läuft gut: Täglich verbraucht er je einen 15kg-Sack Orangen bzw. Karotten. Ein grosses Glas Saft verkauft er bei minimalem Gewinn für 500 LBP. An den billigen Saftständen in Trablous bezahlt man dafür das Doppelte. Zeyad zuckt mit den Schultern und lacht bitter: „Ich verdiene daran zwar kaum was, aber es ist besser als gar nichts.“

Dieser Bericht wurde von einem unserer AktivistInnen verfasst. Die englische Original-Version wurde hier auf Electronic Intifada veröffentlicht.