Apr 8, 1998

Bericht: "Humanitarisierung eines politischen Problems in Nahr al-Bared"

2008-04-08
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Ein aktueller Beitrag des TV-Senders Al-JazeeraEnglish aus dem zerstörten palästinensischen Flüchtlingslager Nahr al-Bared illustriert die vorherrschende, tendenziöse Berichterstattung zahlreicher Medien zur Situation im Camp vortrefflich. Im Folgenden wird kurz auf den Beitrag eingegangen und die entsprechende Kritik formuliert.

Am Nachmittag des 3. April 2008 tauchte in der Majles-Straße im zerstörten Nahr al-Bared Camp eine Film-Crew des Senders Al-JazeeraEnglish in Begleitung des libanesischen Armeegeheimdienstes (Muchabarat) auf. Die libanesische Armee verbietet grundsätzlich jegliches Filmen und Fotografieren in Nahr al-Bared. An den Checkpoints und innerhalb des Camps werden Menschen nach Kameras durchsucht, Journalisten werden kaum zugelassen und wenn, dann bloß in Begleitung von Soldaten oder Agenten des Muchabarats.
Humanitärer Fokus
Der knapp dreiminütige Beitrag des Nachrichtensenders mit dem Titel "Refugees return to Nahr al-Bared" (dt.: 'Flüchtlinge kehren nach Nahr al-Bared zurück') vom 5. April 2008 geht auf die mühsamen Räumarbeiten, die physische Zerstörung Nahr al-Bareds, die mangelhafte Infrastruktur für zurückkehrende Flüchtlinge und den schwierigen, langwierigen Wiederaufbau ein. Diese Themen können grundsätzlich unter dem Stichwort "humanitäre Aspekte" zusammengefasst werden. Die angesprochenen Problematiken sind vor Ort gegenwärtig tatsächlich relevant und die Sorgen darüber werden von vielen Flüchtlingen geteilt. Diese humanitären Aspekte werden im Beitrag - in Anbetracht dessen Kürze - einigermaßen befriedigend behandelt.
Fehlender politischer Fokus
Der vollständige Fokus auf humanitäre Themen ignoriert allerdings völlig die politische Dimension der Geschehnisse in Nahr al-Bared. Die Präsenz und die (politische) Rolle der libanesischen Armee und des Muchabarats werden mit keinem Wort erwähnt. Die Zerstörung des Flüchtlingslagers wird als "normales" Produkt der militärischen Auseinandersetzungen dargestellt und mit keinem Wort hinterfragt. Das immense Ausmaß von Plünderung, absichtlicher Zerstörung und Brandstiftung in den Häuserruinen, welches auf eine systematische Ausführung politisch motivierter Befehle schließen lassen, wird ebenso wenig erwähnt und die Kameras zeigen bloß Aufnahmen, auf welchen die oft deutlichen Brandherde nicht ersichtlich sind (bspw. Benzinspuren an den Wänden).
Beispiele
An zwei kurzen Zitaten der Reporterin Zeina Khodr lassen sich einige Kritikpunkte vortrefflich illustrieren:

1."Some 10.000 have returned to Nahr al-Bared over recent months, but only to homes on the camp's outskirts." (dt.: 'Rund 10'000 sind in den vergangenen Monaten nach Nahr al-Bared zurückgekehrt, allerdings bloß in die Häuser am Rande des Camps.')
Diese Aussage verschleiert die Tatsache, dass sehr viele Flüchtlinge bislang nicht zurückkehren DÜRFEN bzw. die Armee ihnen KEINE BEWILLIGUNGEN ausstellt, mit welchen sie die Checkpoints entlang Nahr al-Bareds passieren könnten.

2. "Behind these buildings is the area known as the old camp. It was reduced to rubble during last year's fighting. And it remains closed while the army continues to clear ammunitions. Most of the camps residents, some 20.000 refugees used to live there, and they're not returning any time soon." (dt.: 'Hinter diesen Gebäuden ist das Gebiet, welches als altes Camp bekannt ist. Es wurde in den Kämpfen des vergangenen Jahres zu Schutt reduziert. Es bleibt unzugänglich, während die Armee weiter Munition beseitigt. Die meisten EinwohnerInnen des Camps, rund 20'000 Flüchtlinge, lebten früher dort und sie werden nicht so schnell zurückkehren.')
Hierzu sind verschiedene Dinge anzumerken. Die Aussagen Khodrs lassen darauf schließen, dass das alte Camp aufgrund der Kämpfe zwischen Fatah al-Islam und der libanesischen Armee derart zerstört wurde. Mit keinem Wort erwähnt die Reporterin jedoch, dass viele Häuser nachweislich NACH Kriegsende angezündet und zerstört wurden, also während einer Periode, in welcher bloß die libanesische Armee im alten Camp anwesend war. Ebensowenig wird hinterfragt, weshalb ein ganzes Flüchtlingslager wegen einigen Hundert militanten IslamistInnen TOTAL zerstört worden ist. Dies würde nämlich Zweifel am Schluss zulassen, dass die Zerstörung Resultat der Kämpfe ist und vielmehr zur Konklusion verleiten, dass die Zerstörung des Camps eines der HAUPTZIELE der Auseinandersetzungen war.
Im selben Zitat wird die Begründung der Armee wiedergegeben (ohne diese jedoch als Quelle zu bezeichnen), dass das alte Camp bislang deshalb nicht zugänglich ist, da immer noch Blindgänger geräumt werden müssen. Die zahlreichen Hinweise darauf, dass die Armee ABSICHTLICH die Öffnung des alten Camps (und damit den Beginn des Wiederaufbaus) verzögert und die Räumung von unexplodierter Munition bloß als Vorwand benutzt, werden mit keinem Wort erwähnt. Ebensowenig, dass auch im Schutt der bislang zugänglichen und damit theoretisch entminten Häuser bislang zahlreiche scharfe militärische Projektile gefunden wurden.
Im letzten Teil Khodrs Aussage enthält sich die Reporterin einmal mehr einer Begründung ihrer Einschätzung, dass die meisten Flüchtlinge in naher Zukunft nicht zurückkehren werden. Wie erwähnt, ist es vielen Flüchtlingen bislang NICHT ERLAUBT, zurückzukehren und jene EinwohnerInnen des alten Camps, welche in die Baracken umgesiedelt wurden, durften bislang auch nicht mehr als unter strengen Auflagen (wenn überhaupt) und während sehr kurzer Zeit ihre zerstörten Häuser aufsuchen und im Schutt nach einigen nicht geplünderten Habseligkeiten suchen.
Die mediale Politik der Humanitarisierung
Der hier kritisierte Beitrag von Al-JazeeraEnglish reiht sich in eine Serie von Reporten anderer Mainstream-Medien zum Thema Nahr al-Bared ein die sich grundlegend dadurch charakterisieren lassen, dass sie das vorliegende Problem humanitarisieren anstatt es zu politisieren und dadurch die offizielle Version der Geschehnisse im Flüchtlingslager seitens der libanesischen Regierung und deren Sicherheitsapparat widerspruchslos akzeptieren und durch ihre Arbeit gar reproduzieren. Letzten Endes zum gravierenden Nachteil der Betroffenen: der 30'000 heimat- und obdachlosen, enteigneten, geschundenen und unterdrückten palästinensischen Flüchtlinge aus Nahr al-Bared.

Dieser Bericht wurde von einem unserer AktivistInnen geschrieben und wurde erstmals in englischer Sprache hier auf Electronic Intifada publiziert.