May 14, 2001

bericht: "Gegen Mauern rappen"

2011-05-14
[en]
In der West Bank gibt es nicht mehr viele Stimmen welche die zunehmend autoritäre Herrschaft der Palästinensischen Autonomiebehörde offen hinterfragen. Ein junger Musiker in Ramallah weigert sich aber standhaft, sein Maul zu halten.

In Ramallah reissen Bulldozer alte Häuser ab, um Raum zu schaffen für schicke Restaurants, Einkaufszentren, Bürokomplexe und Apartment-Blöcke. Der Sitz der Autonomiebehörde wird gerade renoviert – die Anlage gleicht einer Festung. In der Nähe ist der Bau des 28-stöckige Palestinian Trade Tower beinahe fertig gestellt. Luxusbüros, ein teures Hotel und ein Kino werden einst darin unterbracht.

Vor sechs oder sieben Jahren, als die meisten Städte im Westjordanland noch gegen die israelische Besatzung ankämpften, war Ramallah bereits befriedet. Schicke Autos und trendige Boutiquen eroberten das Stadtzentrum. In einem der neuen Restaurants sitzt ein junger palästinensischer Musiker, der unter dem Künstlernamen 'Boikutt' bekannt ist.

„Es ist ziemlich verwirrend, in Ramallah zu leben,“ sagt der 25-Jährige. „Es ist eine Art Blase.“ Er habe den Eindruck, dass die Menschen in der Illusion lebten frei zu sein, obwohl Ramallah nach wie vor eine besetzte und von zahlreichen Checkpoints und der Mauer umzingelte Stadt sei. „Fahr mal 10 Minuten in irgend eine Richtung und du wirst feststellen, dass du in einem Gefängnis lebst,“ sagt Boikutt.
Mittlerweile ist die Kellnerin gekommen und fragt nach den Bestellungen. Auf Englisch. Boikutt antwortet auf Arabisch. Sie hingegen, eine Palästinenserin in den Zwanzigern, hält unweigerlich am Englischen fest. Als sie weg läuft zieht Boikutt bedeutungsvoll seine Augenbrauen hoch. „Ramallah unterscheidet sich immer mehr von anderen palästinensischen Städten.“ Das Restaurant gegenüber bietet mittlerweile nicht einmal mehr arabischen Kaffee an.

Israelische Panzer, welche 2002 durch Ramallahs Strassen rollten und Ausgangssperren mit Waffengewalt durchsetzten bewegten Boikutt dazu, einen ersten Track namens 'Ausgangssperre' zu produzieren. 2003 gründete er zusammen mit seinem Bruder 'Aswatt' und dem befreundeten MC Stormtrap das Musikkollektiv 'Ramallah Underground'. Der experimentelle Ansatz der Gruppe resultierte in einzigartigem Sound, welcher Trip-Hop, Hip-Hop, Downtempo und traditionelle arabische Musik verband.

Die ersten Musikstücke setzten sich primär mit dem Leben unter israelischer Besatzung auseinander. Nachdem die israelische Armee sich aus Ramallah weitgehend zurückgezogen hatte, wurde die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) zur neuen Zielscheibe der jungen Musiker. In deren Meinung hatte nämlich bloss der eine Unterdrücker den anderen ersetzt: „Sie raubten uns aus / Nahmen unser Land weg / Wir waren geschlagen / Sie wendeten sich uns zu / Sie überredeten uns / Sie wurden trainiert um Israel vor uns zu verteidigen / Wir werden überwacht / Soldaten überall / Aber sag': Wem dient all dies?“

Boikutt fühlt sich doppelt eingesperrt: „Da ist einerseits die israelische Apartheid-Mauer, welche ein Freiluftgefängnis konstituiert. Und andererseits ist es die Herrschaft der PA und ihrer Polizeikräfte, welche an jeder Ecke von Ramallah stationiert sind. Sie kontrollieren uns ständig, obschon wir uns bloss innerhalb unseres Gefängnisses umher bewegen.

Während in mehreren arabischen Ländern autoritäre Regimes nach Volksaufständen stürzten, ist es der PA bislang gelungen, ähnliche Bestrebungen in der West Bank im Keim zu ersticken. Die Repression oppositioneller Stimmen hat zu einer Atmosphäre geführt, in der „die Menschen wissen, wo die Grenzen sind,“ sagt Boikutt.

Die sogenannte 'Bewegung vom 15. März', welche ein Ende der Spaltung zwischen Hamas und Fatah verlangte, zeigte deutlich, dass viele junge Palästinenser die Nase voll haben von der herrschenden politischen Elite. „Die PA hat die Proteste zugelassen, solange sie ihrer Kontrolle nicht entglitten,“ sagt Boikutt. „Das ist das Maximum. Weiter kann man nicht gehen.“

Der junge Musiker findet es schändlich, dass die meisten palästinensischen KünstlerInnen allfällige Kritik bloss in sanfte Worte fassen. Im Gegensatz dazu sind die Reime von Ramallah Underground äusserst explizit. „Strassenschlachten, weil die Polizei mich nervt / Als wäre die Apartheid-Mauer nicht genug / Nun haben sie auch noch diesen Virus in mein Land eingeschleust.“

Boikutt fordert die Menschen auf, eine Art dritte Intifada zu beginnen. „Ziel des Aufstands wäre es, die koloniale Maschine und all ihre Einzelteile zu sabotieren.“ In der Tat betrachten viele PalästinenserInnnen die gegenwärtige Koordination zwischen Israel, den USA und der PA in Sicherheitsbelangen als eine Art von Kollaboration mit dem Feind. Wie von WikiLeaks enthüllte Dokumente gezeigt haben, war die PA stets darauf erpicht, „die Koordination fern der Öffentlichkeit zu halten.“ Bislang ist es der PA gelungen, eine ruhige Sicherheitslage herzustellen und zu bewahren und dadurch die Interessen Israels zu schützen.

„Vielleicht der einzige Weg um an die Kolonialmacht zu gelangen, ist sich desjenigen zu erledigen, der einen davon abzuhalten versucht,“ sagt Boikutt. Im Track 'Gefängnis im Gefängnis' rappt Stormtrap: „Während sich die Führer gegenseitig masturbieren, wachsen die Siedlungen und breiten sich aus / Willst du das Problem lösen? / Demontiere unsere Regierung! / Dann können wir vielleicht etwas Neues beginnen.“
Ramallah Underground verbreitete seine Musik vor allem über das Internet. „Angesichts unserer geographisch isolierten Position in Ramallah war es enorm wichtig,“ betont Boikutt. Obwohl er auf Arabisch rappt, ist es nicht einfach, die einheimische Zuhörerschaft zu erreichen. Aufgrund der israelischen Restriktionen ist es unmöglich, etwa im nahen Jerusalem ein Konzert zu veranstalten. „In Europa aufzutreten ist viel einfacher,“ sagt Boikutt.

2009 löste sich Ramallah Underground auf. Neben Soloauftritten begann Boikutt mit Basel Abbas und Ruanne Abou-Rahme, zwei anderen KünstlerInnen, welche vor allem Sound- und Videoinstallationen machen, an einem neuen Projekt zu arbeiten. Dessen Name 'Tashweesh' bedeutet Einmischung. Der Name ist zugleich Programm des Kollektivs.

Tashweesh fokussiert auf Liveauftritte. Boikutt weist darauf hin, dass Performances auf öffentlichen Plätzen oder Strassen äusserst schwierig zu bewerkstelligen seien. „Ramallah wird durch Stadtentwicklung zerstört. Öffentlicher Raum ist zur Mangelware geworden,“ klagt er. Auftritte an kommerziellen Orten sind dadurch unvermeidbar. Boikutt bedauert, dass dort vor allem Publikum aus der lokalen Oberschicht kommt, während zufällige Passanten und Leute, die nicht zur Szene gehören, nicht auftauchen.

Einer seiner besten Auftritte sei gewesen, als er einst auf einem Parkplatz auftraten und Menschen spontan hinzu kamen, sagt der Rapper. „Weisst du, die kamen nicht um unterhalten zu werden, sondern weil das was sie hörten sie interessierte.“

Es ist alles andere als einfach für Boikutt, gehört zu werden. Für viele PalästinenserInnen sind materielle Bedürfnisse weit wichtiger geworden als der politische Befreiungskampf. In einem seiner letzten Tracks rappt Boikutt: „Lass sie auf Hilfe aus dem Ausland warten bis sie sterben / Lass sie mit ihren teuren Autos herum fahren / Innerhalb der Apartheid-Mauer, bis sie in Labyrinthe hinein fahren.“ Der Reim endet mit dem krachenden Ton eines Autounfalls.

Dieser Bericht wurde von Ray Smith verfasst. Die englische Originalversion des Beitrags wurde hier von IPS Inter Press Service veröffentlicht.