Mar 12, 2000

bericht: "Unerfüllte Versprechen in Nahr al-Bared"

2010-03-12
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Nachdem das palästinensische Flüchtlingslager Nahr al-Bared in einem Krieg 2007 völlig zerstört wurde, versprach die libanesische Regierung den 30.000 Flüchtlingen einen schnellen Wiederaufbau und die Rückkehr ins Camp. Zweieinhalb Jahre danach hat sie noch immer nicht Wort gehalten und das Flüchtlingslager ist nach wie vor im Griff der libanesischen Armee.

„Nahr al-Bared wurde nicht zerstört, um wieder aufgebaut zu werden. Es wurde zerstört und das war's. Ich will auswandern!“ Das sind die Worte von Marwan Hamed, einem 30-jährigen Palästinenser, der gegenwärtig in einer 18 Quadratmeter großen Baracke, einem sogenannten temporary shelter am Rande des Flüchtlingslagers Nahr al-Bared im Nordlibanon wohnt. Nachdem er im Mai 2007 in eine Schule im nahen Beddawi Camp geflohen war, kehrte er im Frühjahr 2008 nach Nahr al-Bared zurück. Nach knapp zwei Jahren hat Hamed die Hoffnung verloren, dass das Camp wieder aufgebaut wird, seine Lebensbedingungen sich verbessern und er einen Job findet.

Im Mai 2007 brach in Nahr al-Bared eine 15-wöchige Schlacht zwischen der nicht-palästinensischen militanten Gruppe Fatah al-Islam und der libanesischen Armee (LAF) aus. Die Kämpfe kosteten 54 ZivilistInnen sowie rund 400 Soldaten und Militanten das Leben. Das Flüchtlingslager wurde komplett zerstört und als es unter ausschließlicher Kontrolle der LAF war, wurden Häuser niedergebrannt, in die Luft gesprengt und systematisch geplündert.

Bereits während des Kriegs machte der frühere libanesische Ministerpräsident Fouad Siniora den Flüchtlingen drei Versprechen: „Euer Exil wird temporär, eure Rückkehr definitiv und der Wiederaufbau Nahr al-Bareds sicher sein.“ Die Bereitschaft der Regierung, Nahr al-Bared wiederaufzubauen ist angesichts der konfliktreichen Vergangenheit der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon bemerkenswert. Flüchtlingslager wie Tell az-Zataar oder Jisr al-Basha, im Bürgerkrieg zerstört, wurden nie wieder aufgebaut und die Ablehnung der permanenten Ansiedlung der palästinensischen Flüchtlinge im Land bleibt nach wie vor einer der wenigen Konsense in Libanons politischer Arena.

Nachdem die Regierung im Februar 2008 gemeinsam mit der UNO-Agentur für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) und der grassroots-Kommission für den Wiederaufbau Nahr al-Bareds (NBRC) einen Masterplan für den Wiederaufbau präsentierte, wurde im Juni desselben Jahres in Wien eine Geberkonferenz abgehalten. In einem Dokument skizziert die libanesische Regierung ihre Strategie und betont, das Flüchtlingslager werde „nicht zu seinem vorherigen sozialen und politischen Status zurückkehren, welche seine Übernahme durch Terroristen begünstigte.“

Bei jeder sich bietenden Gelegenheit versicherte Ministerpräsident Siniora, das einst wieder aufgebaute Camp werde langfristig unter Kontrolle des libanesischen Staats und seiner Sicherheitskräfte kommen und zu einem 'Modell-Camp' für die anderen elf palästinensischen Flüchtlingslager im Land werden. In der Barackensiedlung Nahr al-Bareds ist derweil Zynismus und Frustration greifbar. Marwan Hamed etwa fragt zornig: „Nahr al-Bared soll ein Modell werden? Ein Modell für was denn? Für Arbeitslosigkeit, Depression und Verweigerung?“

Etwa zwei Drittel der EinwohnerInnen des Flüchtlingslagers lebten einst im Kern Nahr al-Bareds, der total zerstört wurde. Nach der Räumung des größten Teils des Schutts wurde im Frühling 2009 der Grundstein für den Wiederaufbau gelegt. Dieser begann effektiv aber erst im November, da im Sommer ein Moratorium des libanesischen Staatsrats alle Arbeiten blockierte. Damals, als politische Machtspiele die Bildung der neuen Regierung verzögerten, missbrauchte der Chef der „Freien Patriotischen Bewegung“, Michel Aoun, den Fund antiker Ruinen unter Nahr al-Bareds Schutt und reichte Einsprache ein. Der Wiederaufbau verspätete sich zudem wegen den unzähligen Blindgängern und aus weiteren Gründen.

Charlie Higgins, Projektmanager für den Wiederaufbau Nahr al-Bareds der UNO-Agentur für Palästina-Flüchtlinge warnt: „Wir haben gerade die Startlinie überquert und es dauerte lange, um überhaupt zur Startlinie zu gelangen.“ In den improvisierten Büros der NBRC tönt es ebenso vorsichtig. Abu Ali Mawed, ein Mitglied der Kommission, sagt die Leute seien alles andere als optimistisch. „Es gab zu viele unerfüllte Versprechen und der Prozess kommt kaum voran.“ Mawed ergänzt, optimistische Gefühle kämen ihm erst hoch, wenn er die ersten Menschen in ihren neuen Häusern wohnen sehe.

In der streng bewachten Operationsbasis der UNRWA in Tripoli sagt Projektleiter Higgins, nicht das Lösen technischer Probleme sei das Schwierigste, sondern die Bewältigung administrativer, rechtlicher und politischer Hürden. „Der Wiederaufbau Nahr al-Bareds ist hierzulande keineswegs ein von allen akzeptiertes Unterfangen. Es gibt Leute, die das Projekt ablehnen,“ sagt er und warnt vor weiteren Komplikationen in der Zukunft.

Eines der anstehenden Probleme ist finanzieller Art. Der UNRWA ist es bislang bloß gelungen, einen Drittel der für den Wiederaufbau benötigten 328 Mio. Dollar einzutreiben. „Dies überrascht uns nicht und hält uns auch nicht davon ab voranzuschreiten,“ sagt Charlie Higgins. Er ist optimistisch, dass der UNRWA mehr Geld zufließen werde, sobald die Sponsoren die ersten Häuser stehen sehen.

Für Amr Saededine, einen unabhängigen Journalisten der die Entwicklungen in Nahr al-Bared verfolgt, stellt die Armee das Hauptproblem dar. „Die Regierung erlaubte dem Militär sogar in den Planungsprozess einzugreifen.“ Er fühlt sich an das 19. Jahrhundert erinnert, als der französische Baron Haussmann auf Anweisung von Napoleon III den Umbau Paris' entwarf: Die LAF betrachten Nahr al-Bared bloss aus dem Blickwinkel der Sicherheit. Saededine sagt, die LAF hätten erfolglos versucht, den Bau von Balkonen zu verbieten, doch – wie Israel es im Flüchtlingslager tat – darauf insistiert, dass die Straßen breit genug würden, damit sich Panzer problemlos bewegen könnten. Der Journalist beschuldigt die involvierten zivilen Stellen auf der libanesischen Seite sich hinter den LAF zu verstecken. „All diese Planer und Architekten müssen alles von der Armee absegnen lassen. Aber es geht hier doch um ein ziviles Gebiet und um nichts anderes!“

Die LAF haben Nahr al-Bared zur Militärzone erklärt. Die Armee hat den planierten Kern des Flüchtlingslagers abgeschottet und kontrolliert und beschränkt den Zugang in das umliegende Gebiet, wo sich mittlerweile 20.000 Flüchtlinge temporär aufhalten. Ohne Spezialbewilligungen des Armeegeheimdienstes ist es nicht möglich, Nahr al-Bared zu betreten. Journalisten bleibt der Zugang entweder verwehrt oder sie werden auch Schritt und Tritt von Soldaten begleitet - welche selbst während Interviews den Raum nicht verlassen.

Die Trennung Nahr al-Bareds von den umliegenden libanesischen Dörfern beeinträchtigt nicht nur die interkommunalen Beziehungen negativ, sondern behindert auch die wirtschaftliche Erholung des Flüchtlingslagers. LibanesInnen bildeten vor dem Krieg etwa die Hälfte der Kundschaft. Sie profitierten von den tiefen Preisen und der Möglichkeit, bei den palästinensischen HändlerInnen Schulden zu machen. Seit Herbst 2007, als die ersten Flüchtlinge ins Camp zurückkehren durften, haben viele Kleinbetriebe eröffnet. Diese oberflächlich positive Erscheinung täuscht allerdings.

In Jar al-Qamr, einem Quartier am südlichen Endes des Camps, beschwert sich eine ältere Frau, die einen kleinen Lebensmittelladen betreibt. „Am Anfang war ich alleine. Jetzt haben in dieser Straße mehrere Läden eröffnet und ich verkaufe viel weniger.“ Ähnliche Klagen können überall in Nahr al-Bared gehört werden, da es Lebensmittelläden, Straßencafés, Bäckereien und Sandwich-Restaurants im Überfluss gibt. Die palästinensisch-arabische Frauenliga (PAWL) unterstützt HändlerInnen mit Sachleistungen. Sahar Itani, die Projektkoordinatorin, weist darauf hin, dass der Markt mittlerweile gesättigt und die Kundenbasis auf jene beschränkt sei, die innerhalb des eingezäunten Flüchtlingslagers lebten.

Am Ende der Straße in Jar al-Qamr verbrachten Rima Ghannam und ihr Ehemann die letzten beiden Jahre mit dem Wiederaufbau ihrer zerstörten, völlig geplünderten und teilweise abgebrannten Schreinerei. Kleine Unternehmen wie dieses waren in Nahr al-Bared weit mehr verbreitet als in anderen Flüchtlingslagern. Vor dem Krieg gab es keine Zugangsrestriktionen und der Handel war ertragreich. Ghannam zeigt stolz auf die neuen Maschinen in der Werkstatt und sagt: „Wir es so wieder aufgebaut wie es früher war. Das Problem ist aber, dass wir unsere Erzeugnisse in einer großen Galerie und nicht in einem kleinen Raum ausstellen sollten um dann zu warten, bis jemand kommt und etwas kauft.“

Rima Ghannam erklärt, die Verwendung billigerer Rohmaterialien und der stückweise Verkauf sei problematisch. „Wenn es möglich wäre, zur Produktion ganzer Kollektionen von Betten und Möbeln zurückzukehren würde sich unsere Lage sicherlich verbessern.“ Unter großen Schulden leidend und von der Kundschaft abgeschnitten hofft sie, dass die Armee die Checkpoints öffnen und den Verkehr zur nahen Autostraße, welche Tripoli mit der syrischen Grenze verbindet, erleichtern wird.

Die LAF lassen derweil verlauten, ihre Sicherheitsmaßnahmen „dienen vor allem dem Schutz der Leute durch die Prävention der Infiltration durch Terroristen oder zur Verhaftung ausgeschriebener Personen und der Unterbindung des Schmuggels von Waffen, Sprengstoff und illegalem Material.“ In Kontrast dazu bezeichnet Charlie Higgins von der UNRWA die Sicherheitsmaßnahmen der libanesischen Armee als ein „signifikantes Hindernis hinsichtlich des Wiederaufbaus des Camps in jedem Sinne.“ Er beschreibt die wirtschaftliche Situation als „festgefahren.“

Im Oktober hoben die LAF die Bewilligungspflicht für libanesische StaatsbürgerInnen auf. Diese können das Flüchtlingslager nun mit ihrem normalen Ausweis betreten. Trotzdem hat die Anzahl libanesischer KundInnen kaum zugenommen, weil sie lange Wartezeiten, Kontrollen und Befragungen am Abdi-Checkpoint, dem einzigen den sie passieren dürfen, erdulden müssen. Mehrere LibanesInnen berichteten, dass sie wieder ihre alten Bewilligungen verwenden, da damit der Zugang schneller und einfacher sei.

In Nahr al-Bared schalten und walten Armee und Geheimdienst nach eigenem Belieben. Die Flüchtlinge vermeiden es mittlerweile, öffentlich und ausführlich über die Sicherheitskräfte oder den libanesischen Staat zu sprechen. Der Geheimdienst hat die schwierige Situation der Flüchtlinge dazu missbraucht, zahlreiche InformantInnen zu rekrutieren – vor allem Frauen – deren Dienste vor allem mit Telefonkarten vergolten werden.

Neulich haben die ISF, die libanesische Polizei, am nördlichen Endes des Camps einen Posten errichtet. Die gegenwärtige Rolle der ISF scheint aber auf Straßenpatrouillen beschränkt zu sein. Marwan Abdulal, Chef der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) und Verantwortlicher für den Wiederaufbau Nahr al-Bareds der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) sagt, „das Problem ist, dass die libanesische Armee trotz der Ankunft der ISF präsent geblieben ist.“ Er verlangt den Abzug der Armee und dass Nahr al-Bared nicht länger als Militärzone gilt sondern als ziviles Gebiet betrachtet wird.

Die zukünftigen Sicherheitsmaßnahmen in Nahr al-Bared werden gegenwärtig heftig debattiert. Die libanesische Regierung beabsichtigt, das Camp unter staatlicher Obhut zu behalten und das angelsächsische Modell des community policing einzuführen. Die USA sponsern zurzeit ein 6-Mio. Dollar teures Programm zum Training der ISF. Der Journalist Amr Saededine findet die Idee absurd. „Es kommt aus heiterem Himmel und sie wollen Nahr al-Bared zu einem Testfeld machen. Das Konzept wird weder im Libanon noch sonst wo in der Region angewendet.“ Er argumentiert, die Regierung priorisiere die Umsetzung des community policing, anstatt einen Dialog mit den PalästinenserInnen zu führen und ein Abkommen auszuhandeln.

Derweil zieht es die PLO vor, die palästinensische Selbstverwaltung aufrecht zu erhalten und das Volkskomitee des Camps zu reformieren. Sie schlägt vor, eine eigene Polizei zu bilden, welche mit dem Volkskomitee und den ISF koordiniert, während letzterer aber außerhalb des Flüchtlingslagers stationiert ist. Der PLO-Delegierte Abdulal, der selbst in Nahr al-Bared wohnt, glaubt nicht, dass direkte libanesische Sicherheitskontrolle über das Camp funktionieren würde. „Solange das Gesetz diskriminierend bleibt, aber angewandt werden soll, ist das Experiment zum Scheitern verurteilt.“

In der Tat, die Anwendung des gegenwärtigen libanesischen Gesetzes in Nahr al-Bared würde bedeuten, dass die ISF sozusagen alle Leute zu verhaften hätte, sagt Saededine. „PalästinenserInnen ist es untersagt, Eigentum zu besitzen, in vielen Berufen tätig zu sein, Geschäfte zu eröffnen usw.“ Offensichtlich würde die Anwendung libanesischen Rechts in den Flüchtlingslagern bedeuten, dass eine seriöse Diskussion über Bürgerrechte für PalästinenserInnen im Libanon geführt werden müsste. In keinem anderen arabischen Land werden PalästinenserInnen rechtlich derart stark diskriminiert wie im Libanon.

Für Abdulal ist klar, „es ist unmöglich Sicherheit im Libanon (state security) zu erreichen, ohne den PalästinenserInnen menschliche Sicherheit (human security) zu garantieren. PalästinenserInnen müssen Bürgerrechte erhalten.“ In einem positiven Schritt wurde 2005 das libanesisch-palästinensische Dialogkomitee (LPDC) vom libanesischen Ministerrat ins Leben gerufen. Das Mandat dieser Institution besteht aus der Verbesserung der Lebensbedingungen der 250.000 palästinensischen Flüchtlinge im Libanon. Bis heute blieb der Einfluss des LPDC allerdings marginal und Schlüsselthemen wie die Abschaffung der Diskriminierung von PalästinenserInnen auf dem libanesischen Arbeitsmarkt wurden nicht ernsthaft angepackt.

Nahr al-Bareds Wiederaufbau ist ein enorm politisches Unterfangen und alle involvierten Parteien betrachten es als eng verknüpft mit der Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon und deren Beziehungen zu ihrem Gastland. Es gibt Chancen und tatsächlich scheinen einige libanesische politische Akteure für einen Paradigmenwechsel bereit. Trotzdem verbleiben zahlreiche Hindernisse und die Entwicklungen in Nahr al-Bared während der letzten zweieinhalb Jahren deuten auf eine fortwährende Hegemonie von Sicherheitsdenken hinsichtlich der PalästinenserInnen hin – entgegen all den netten Worten und schönen Versprechen.

Dieser Bericht wurde von Ray Smith verfasst und in der schwedischen Wochenzeitung Arbetaren veröffentlicht.