Oct 23, 1998

bericht: "Einer ungewissen Zukunft entgegen"

2008-10-23
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Vor etwas mehr als einem Jahr konnten die ersten PalästinenserInnen in den äußersten Bereich des völlig zerstörten Flüchtlingslagers Nahr al-Bared im Norden Libanons zurückkehren. Der Krieg im Sommer 2007 zwischen der libanesischen Armee und der größtenteils nicht-palästinensischen, islamistischen Gruppe Fatah al-Islam reduzierte das Camp zu Schutt und Asche, mehr als 30'000 Menschen verloren alles. Mittlerweile leben knapp 15'000 Flüchtlinge wieder im Camp. Die meisten von ihnen warten noch immer auf freien Zugang zu ihren zertrümmerten Häusern, da die libanesische Armee den ehemals dicht bevölkerten Kern Nahr al-Bareds, das sogenannte „alte Camp“ wie auch Teile des angrenzenden „neuen Camps“ kontrolliert.

Abu Khalil, Inhaber eines kleinen Schreibwarenladens an der ehemaligen Hauptstraße des Camps bezahlte 3000 Dollar für die Einrichtung und ungefähr 10'000 Dollar für seine Waren, als er seinen Laden nach dem Krieg wieder eröffnete. Allerdings hat er ein wesentlich geringes Kundenvolumen zu beklagen. Er erklärt, dass vor dem Krieg nicht bloss die PalästinenserInnen aus dem Camp in seinem Laden eingekauft hätten, sondern viele LibanesInnen aus der ganzen nördlichen Region Akkar zu seiner Kundschaft gezählt hätten: „Damals hatte ich 100'000 potentielle Kunden, jetzt bloss noch jene 13'000, die wieder in Nahr al-Bared wohnen. Ich bin jetzt faktisch belagert. Die libanesische Armee sollte den Menschen erlauben, das Camp frei zu betreten und zu verlassen.“

Das Flüchtlingslager war ein lebendiges ökonomisches Zentrum in der Region Akkar entlang der Hauptverkehrsachse zwischen der Stadt Trablous (Tripoli) und der syrischen Grenze. Nidal, ein führendes Mitglied einer politischen Partei im Camp erläutert, dass es bekannt gewesen sei, dass man in Nahr al-Bared auf Kredit konsumieren einkaufen konnte. „Libanesische Läden funktionieren nicht auf diese Art. Ebenso waren die Dinge hier billiger und die Verkäufer importierten ihre Ware direkt aus dem Ausland“, betont er. Im Unterschied zu anderen palästinensischen Camps in Libanon war Nahr al-Bared für eine lange Zeit ohne Restriktionen zugänglich. Bloß einige Monate vor dem desaströsen Angriff der libanesischen Armee wurden entlang des Camps Checkpoints errichtet. Während diese der lokalen Wirtschaft erheblichen Schaden zufügten, vermochten sie erstaunlicherweise die massiven Waffen und Munitionslieferungen zuhanden Fatah al-Islams im Camp nicht aufzuhalten...

Die Überzeugung, dass die florierende Ökonomie Nahr al-Bareds das Hauptziel des libanesischen Zerstörungskrieges war, ist unter den Flüchtlingen im Camp weit verbreitet. Nidal warnt jedoch davor, wirtschaftliche Faktoren zu überschätzen und meint: „Vielleicht stellten diese teilweise einen Antrieb für die Zerstörung dar, aber sicherlich gab es weitere wichtige Gründe: politische Gründe. Diese sind verknüpft mit dem Rückkehrrecht der Palästina-Flüchtlinge und mit dessen Gegenteil, deren permanente Ansiedlung in Libanon.“ Er erinnert an die Worte des libanesischen Ministerpräsidenten Fouad Siniora, der im Frühling bekräftigte, Nahr al-Bared würde einst zum Vorbild für andere Flüchtlingslager in Libanon werden.

Trotz den Versprechungen verantwortlicher libanesischer Politiker, das Camp wieder aufzubauen, äussern viele Flüchtlinge des alten Teils von Nahr al-Bared Skepsis über deren Erfüllung. Abu Khalil beschwert sich, dass ihnen schon viele leere Versprechungen gemacht wurden: „Sie sagten, dass sie mit den Aufräumarbeiten Anfang September beginnen würden. Dann am 15. September, dann am 20. September. Nun sagen sie, man würde nach Ende des Ramadans damit beginnen. Weiß Gott wie lange es nach dem Ramadan wieder dauern soll!“

Der ursprüngliche Plan der libanesischen Regierung und der UN-Hilfsorganisation für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) setzte den 15. August 2008 als Startdatum für den gestaffelten Wiederaufbau -Prozess fest. Allerdings tauchten bis Anfang Oktober keine Baumaschinen im alten Camp auf. Die EinwohnerInnen Nahr al-Bareds wurden Woche für Woche mit allerlei fadenscheinigen Ausreden vertröstet. Einmal hieß es, es seien noch nicht genügend Baumaschinen verfügbar, ein anderes mal sagte die Armee, man müsse den Abbrucharbeitern noch Kurse im Umgang mit Blindgängern erteilen. Am 10. Oktober schließlich trafen die ersten Bagger ein und begannen, Schneisen für den Zugang von Lastwagen frei zu machen.

Jene Familien, die gegenwärtig in den in der NGO-Sprache „temporären Wohneinheiten“ oder „shelters“ genannten, unter den Flüchtlingen aber als „Baracken“ bekannten Eisen-Containern bzw. Beton-Konstruktionen wohnen, verlieren zunehmend ihre Geduld. Ein Bewohner eines Containers am nördlichen Ende des Camps ärgert sich über die miserable Wohnsituation und sagt: „Sie haben uns bloss hierher gebracht um uns ruhig zu stellen. Deshalb gibt es die Baracken und die Lebensmittel-Pakete. Aber wir insistieren darauf, sobald wie möglich ins alte Camp zurückzukehren.“ Obwohl in Nahr al-Bared kaum politischer Aktivismus hinsichtlich der Rückkehr ins alte Camp sichtbar ist, entlädt sich die kollektive Frustration punktuell. Am 1. Oktober, dem ersten Feiertag zu Ramadan-Ende, durchbrachen Hunderte PalästinenserInnen einen Armee-Checkpoint um die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen zu besuchen. Die libanesische Armee plante, die Leute bloß in kleinen Gruppen und nach rigoroser Kontrolle in den arg beschädigten alten Friedhof am südlichen Ende des alten Camps einzulassen. Die Flüchtlinge jedoch begannen die Soldaten zu beschimpfen und bahnten sich schließlich einen Weg durch die Armeelinien.

Während Nidal überzeugt ist, dass das Camp wieder aufgebaut wird, weist er auf den eigentlichen politischen Knackpunkt hin: „Wer wird das künftige Camp verwalten? Das Volkskomitee von Nahr al-Bared oder die libanesischen Behörden durch die Internal Security Forces?“ Er fürchtet, die Umsetzung von Sinioras Plan werde die palästinensische Selbstverwaltung in den Flüchtlingslagern untergraben und das Camp langfristig unter libanesische Kontrolle bringen.

EinwohnerInnen Nahr al-Bareds haben bereits begonnen, über politische Themen oder Entwicklungen im Camp mit einer gewissen Vorsicht zu sprechen. Sie fürchten sich vor den Spionen und Kollaborateuren, die mit den libanesischen Geheimdiensten arbeiten. Deren zunehmende Rekrutierung führt zu Uneinigkeit und gegenseitigem Misstrauen im Camp. Solche Vorgänge kontrastieren die rosigen Versprechungen der libanesischen Regierungen und der UNRWA scharf und deuten auf eine ungewisse Zukunft Nahr al-Bareds hin.

a-films produzierte einen 16-minütigen Film zum selben Thema.

Dieser Bericht wurde von einem unserer AktivistInnen verfasst. Die englische Original-Version wurde hier auf Electronic Intifada veröffentlicht.